1925
Traumnovelle
»Und kein Traum [...] ist völlig Traum.«
Die Macht von Träumen und Phantasien und die Frage nach dem Grad der Offenheit, den eine Beziehung verträgt, davon erzählt die Traumnovelle von Arthur Schnitzler in mitreißender Eindringlichkeit. Die Erzählung, in der Ausarbeitungsphase zunächst “Doppelgeschichte”, dann “Doppelnovelle” und erst zuletzt “Traumnovelle” genannt, erschien ab 1925 in Form einer Serie in einer Zeitschrift, 1926 dann auch als Buch.
Der zunächst harmonisch erscheinende Ehealltag von Albertine und Fridolin wird gleich zu Beginn der Erzählung jäh unterbrochen. Ein harmlos beginnendes Gespräch am Frühstückstisch über einen am Abend zuvor besuchten Maskenball, in dessen Anschluss sich die Eheleute “zu einem schon lange Zeit nicht mehr so heiß erlebten Liebesglück in die Arme sinken”, führt zu “[harmlosen und doch lauernden Fragen], verschmitzte, doppeldeutige Antworten [wechseln] hin und her”. Es entsteht ein “ernsteres Gespräch über jene verborgenen, kaum geahnten Wünsche” und das Bewusstsein dafür erwacht, dass “nicht zum erstenmal ein Hauch von Abenteuer, Freiheit und Gefahr sie angerührt”.
Beide fordern die gesamte Wahrheit über den anderen, fordern Geständnisse und damit das Glück heraus. Eifersüchtige Neugier führt zu Mistrauen, Mistrauen zu Rachegelüsten und ein Zwiespalt entsteht zwischen wissenwollen und nicht ertragen. Selbstquälerisch wird der andere gedrängt, von seinen Sehnsüchten und Erlebnissen zu erzählen, auch wenn die Wahrheit entzweit und nicht verbindet.
Fridolin, in dem durch die Geständnisse Albertines “unfassbare, unsinnige Zweifel” erwachen, stürzt sich daraufhin in eine abenteuerreiche Nacht, in der er eine Prostituierte besucht, auf die Tochter eines Kostümverleihinhabers stößt, aus deren Augen “Schelmerei und Lust” lächeln und auf einen geheimen Kostümball gerät, an dessen Ende ihn eine Unbekannte vor den Konsequenzen rettet, die seine ungebetene Anwesenheit zur Folge hätte. Und doch führt er keines dieser Abenteuer wirklich zu Ende. Albertine träumt in derselben Nacht davon, in den Armen eines anderen Mannes zu liegen und es lockt sie, “[Fridolin] zu verhöhnen, [ihm] ins Gesicht zu lachen”. Der Traum ist geprägt von hemmungsloser und unzensierter Abenteuerlust und einer Aggression gegen einen Partner, den sie als schwach wahrnimmt und dessen Gebaren sie als “über alle Maßen töricht und sinnlos empfindet”. Und doch schwingt in ihren Erzählungen und Träumen stets ihre Verbundenheit zu Fridolin mit, der ihr “[teurer war als je]” und von dem sie “[keinen Augenblick aufhört zu wissen]”.
Fridolin, der über die Erzählung hinweg als der agierende, handelnde Part auftritt und aus verletztem Männlichkeitsgefühl versucht, sich als Verführer, Retter und Ritter darzustellen, kann erst zum Ende hin erkennen, dass er sich die Unbekannte vom Maskenball die ganze Zeit “mit den Zügen Albertinens vorgestellt hatte”. “Mit einem Male am Ende seiner Kräfte” entschließt er sich: “Ich will dir alles erzählen” und seufzt “[…] kein Traum […] ist völlig Traum”.
Die “Traumnovelle” handelt von Sehnsüchten, die viele von uns in sich tragen und die gerade im Alltagstrott auftreten können, wenn man vergisst, den eigenen Partner auch als Liebhaber wahrzunehmen. Offen bleibt, wie viel Wahrheit einer Partnerschaft gut tut und wie viel vom Geschehen in der Traumnovelle Traum ist und wie viel Realität. Mitnehmen kann man, dass man seine Sehnsüchte kommunizieren sollte, ohne zu verletzen und dass man keine Fragen stellen sollte, deren ehrliche Beantwortung man selber nicht erträgt.