eine sammlung.

2003

Der Kameramörder

»Heinrich sagte, meint er den Mörder oder meint er den Mob.«

“Ich wurde gebeten, alles aufzuschreiben.”. Damit beginnt Thomas Glavinics 2006 erschienener Roman “Der Kameramörder”. Es folgt ein spannender und nachdenklich stimmender Bericht, in dessen Mittelpunkt der grauenhafte Mord an zwei Kindern steht. Während sich der Kreis um den Mörder immer enger zieht, entwickelt sich in der Gesellschaft eine Stimmung zwischen Angst, Sensationslust und Selbstjustiz. Der Leser wird konfrontiert mit dem menschlichen Abgrund des Einzelnen, aber ebenso mit den Abgründen der Gesellschaft. Es bleibt die Frage, welche der beiden beängstigender ist.

Der ich-Erzähler besucht mit seiner Lebensgefährtin Sonja ein befreundetes Ehepaar, Heinrich und Eva, in der Steiermark. Kurz nach ihrer Ankunft berichtet das Fernsehen von einem gräßlichen Verbrechen, bei dem zwei Kinder gezwungen wurden, sich durch einen Sprung von einem hohen Baum zu töten. Der Mörder hat seine Taten mit einer Videokamera aufgenommen. Während anfänglich nur die Bestürzung über die Abscheulichkeit der Tat geäußert wird und die Frage im Raum steht, wie man Menschen überhaupt dazu zwingen kann, sich selbst zu töten, gewinnen die Auswirkungen des Mordfalls auf die Gesellschaft schnell an Fahrt. Im Heimatort der Opfer bildet sich eine Menschenmenge, aus der Menschen schreien, “dass sie den Täter finden und umbringen würden”, ein älterer Mann feuert mit einem Gewehr in die Luft, die Freiheitliche Partei denkt über ein Volksbegehren zur Wiedereinführung der Todesstrafe nach und ein Privatsender verkündet, dass er dass Video ausstrahlen wird. Die Empörung über die Veröffentlichung des Videos ist zunächst groß, der Erzbischof mahnt, dass dadurch der “Geist der toten Kinder und die Menschwürde” verletzt würden, doch “die Realität der im Quotenkampf befindlichen Fernsehsender” siegt. Und als das Video dann mit reichlich Werbeunterbrechung ausgestrahlt wird, als würde es sich um einen spannenden Film handeln, greifen auch die beiden Paare zu Erdnüssen und Wein.

Während die Frauen hin und hergerissen sind zwischen ihrer Abneigung gegen die Veröffentlichung neuer Details und einer gewissen Neugier, lebt Heinrich in seiner Sensationslust völlig auf und hält sich ständig auf den verschiedenen Informationkanälen auf dem Laufenden. Er bemerkt, das Verbrechen “könne dem Tourismus in der Gegend Aufschwung verleihen”, kann es kaum abwarten, die Sonderausgabe einer Zeitung mit Bildbericht über den Mord zu ergattern und ergötzt sich an der Liveübertragung einer Verfolgungsjagd auf einen jungen Mann, der sich später als unschuldig herausstellt.

Der Roman ist als Bericht geschrieben, ohne direkte Rede, in kurzen, prägnanten Sätzen. Und gerade dieser gnadenlose Schreibstil zwischen den Belanglosigkeiten des Alltags und den schrecklichen Schilderungen des Mordes führt zu einer Spannung, die einen das Buch nicht mehr aus der Hand legen lässt. Und die Überlegung Evas, ob sie nun vor dem Bauern von nebenan, der mit seiner Schrotflinte herumläuft oder vor dem Mörder mehr Angst haben soll, ist stellvertretend für die Aussage des Buches: ist wirklich der Kameramörder das Monster oder sind das nicht viel eher wir? Wir, die wir uns aufrüsten und altertümliche Strafen zurückfordern, die wir vor dem Fernseher sitzen und damit die unmoralischen Sondersendungen und Sonderausgaben fördern. So schafft es das Buch, dass man auch über sein eigenes Handeln nachdenkt und hinterfragt: In welcher Gesellschaft leben wir?

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