eine sammlung.

1888

Bahnwärter Thiel

„Eine dunkle Masse war unter den Zug geraten und wurde zwischen den Rädern wie ein Gummiball hin und her geworfen.“

Gerhart Hauptmanns 1888 erschienene Erzählung ‘Bahnwärter Thiel’ schafft es durch die moderne Sprache und die realistische Darstellung einer familiären Tragödie auch den Leser von heute in den Bann zu ziehen. Das naturalistische Werk steuert komprimiert auf 50 Seiten packend und spannend einem unausweichlichen Ende zu.

Der Bahnwärter Thiel heiratet nach dem Tod seiner ersten Frau Minna, die im Wochenbett stirbt, ein zweites Mal. Lene, eine Kuhmagd aus Alte-Grunde, erscheint mit ihrer dicken und starken Gestalt als das Gegenteil der schmächtigen, kränklich aussehenden Minna, mit der Thiel in einer vergeistigten Liebe verbunden war. Mit Lene hält eine Frau mit “harter, herrschsüchtiger Gemütsart, Zanksucht und brutaler Leidenschaft” Einzug in sein und das Leben des kleinen Tobias. Und es wird klar, dass Thiel ihr nicht gewachsen ist. Es entwickelt sich eine gefährliche Abhängigkeit, die sich zwischen Abneigung und Ergebenheit bewegt.

Mit der Geburt von Lenes leiblichem Sohn beginnt eine Negativspirale aus der sich Thiel am Ende nur durch eine schreckliche Tat befreien kann.

Während Thiels Liebe zu seinem Sohn aus erster Ehe, Tobias, immer größer wird, wohl auch gestärkt durch das Nachsinnen an seine erste Frau, verstärkt sich bei Lene eine Abneigung, die in verbaler und körperlicher Gewalt ihren Ausdruck findet. Auf die Vorahnung, dass er “gewaltsam etwas Furchtbares zurückhalten” muss, folgt ein stetiger Anstieg des Wahnsinns. Visionen und Träume über seine erste Frau, die “etwas Schlaffes,Blutiges, Bleiches” mit sich trägt, plagen ihn. Als schließlich Lene in sein “Heiligstes”, sein Wärterhäuschen und die Bahnstrecke, eindringt, so ist das nicht nur etwas äußerliches, sondern es scheint, als ob sie ihm auch innerlich das letzte bisschen Selbstbestimmung nimmt und der Absturz in den Wahnsinn nicht mehr aufgehalten werden kann. Als durch die Unachtsamkeit Lenes eine “[dunkle Masse unter den Zug gerät und zwischen den Rädern wie ein Gummiball hin und hergeworfen wird]” und Thiel feststellt “Er ist es.”, ist das darauf folgende Familiendrama besiegelt.

Bedrohlich zieht sich durch das Buch das Bild der Bahngleise und des Zugs, der sich ohne Halt unabänderlich seinen Weg bahnt. Ein “schwarzes, schnaubendes Ungetüm”, dass sich auf Gleisen, einer “ungeheuren, eisernen Netzmasche” und “feurigen Schlangen” gleich, bewegt. Ungeschönt und packend schildert Hauptmann den Weg des Bahnwärters zum Wahnsinn. Er braucht nur wenige Worte und treffende Situationen, um die Verschlechterung des Zustands bildlich darzustellen und den Leser mit der ungeschönten Realität zu konfrontieren. Es fühlt sich an wie ein einziger Atemzug, bei dem man nicht innehalten kann und die Spannung lässt einen das Buch nicht zur Seite legen.

Zurückgelassen wird der Leser mit der Frage nach Gut und Böse und dem Einfluss der Gesellschaft und der äußeren Umstände auf eine schreckliche Tat.

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